Eröffnungsreden von Michael Kolod

Jan Schmidt im 1822 Forum, Frankfurt am Main, 2009

Wer ist PSR 12 VE 2?

Baumarktkunden haben ihn längst erkannt. Der Akku-Schrauber von Bosch mit dem bewährten 12 V Lithium-Ionen Akku, dem elektronischen Geschwindigkeitsregler und dem beliebten Schnellspann-Bohrkopf, ein unentbehrlicher Helfer für Hand- und Heimwerker.

Der erste Eindruck, den man von Jan Schmidts Blättern gewinnt, ist: Die sind handwerklich sauber gemacht. Keine Flecken, Fingerabdrücke oder Knicke, adrett gerahmt, und auch die Zeichnungen selbst erinnern oft an technische Reinzeichnungen und sind makellos.Der Ursprung aller bildenden Kunst liegt im Handwerk. Noch das antike Griechenland, dessen Kunstwerke wir bis heute bewundern, hatte weder einen speziellen Begriff von Kunst noch vom Künstler. „Kunst“ war eine Facette des Begriffs „technae“, und Technik braucht man, genau wie heute noch, zum Diskus-Werfen, zum Tempelbau oder zum Flötenspiel. Der bildenden Künstler firmierte als Handwerker, griechisch: banausos.

Nun hat in unserer spätindustriellen Zeit alles Handwerkliche einen nostalgischen Glanz von Kostbarkeit, Solidität, Seriosität, Bodenständigkeit und intellektueller Schlichtheit.

Die Anthropologie lehrt, dass unsere Primatenhand eine Außenstelle des Gehirns geworden ist (so wie das Auge als Trabant des Gehirns bezeichnet wird). Das heißt, die Hand hat nicht nur die Funktion der praktischen Ausführung von Tätigkeiten, sie ist auch ein Wahrnehmungsorgan, sie macht eigenständige, nicht-diskursive Realitäts­erfahrungen. Sie hat Werk-Funktion und Merk-Funktion, weswegen es sinnvoll ist, von einem Handmerker zu sprechen. Der größte Banause kann eine „gebildete Hand“ haben.

Bei Jan Schmidt liegen die Dinge allerdings anders: Die komplizierten und unendlich feinen Linien- und Fleckenmuster, die wir auf den Blättern sehen, entspringen nicht der bewundernswerten Präzision und Disziplin seiner begnadeten Hände, sondern sie werden produziert von PSR 12 VE 2.

Wer ist PSR 12 VE 2?

Baumarktkunden haben ihn längst erkannt. Der Akku-Schrauber von Bosch mit dem bewährten 12 V Lithium-Ionen Akku, dem elektronischen Geschwindigkeitsregler und dem beliebten Schnellspann-Bohrkopf, ein unentbehrlicher Helfer für Hand- und Heimwerker.

Nun wird niemand dem wackeren Handwerker den Gebrauch von Werkzeug übel nehmen. Aber dieser Akku-Schrauber ist doch wohl mehr als eine elektrische Radiernadel oder ein motorisierter Bleistift.

Er ist ein Form-Generator, und er gehört in die Rubrik Mal- oder Zeichenautomat, genauer die Unterrubrik „halbautomatische Zeichenmaschine“.

Der Beitrag der Maschine ist dabei denkbar simpel und elementar:

Der Schrauber liefert eine kontinuierliche Rotationsbewegung und kann diese auf verschiedene eingespannte Zeichenmedien übertragen. Das ist alles. Im Idealfall wird z.B. ein eingespannter Stift, wenn er sorgfältig gespitzt ist, eine einfache, undifferenzierte, Linie erzeugen. Jan Schmidt baut jedoch immer kleinere und größere Ungleichmäßigkeiten ein, z.B. eine abgeschrägte Mine, und sofort entsteht eine rhythmische Struktur.

Es gibt die Redensart, man brauche das Rad nicht noch einmal zu erfinden.

Damit ist gemeint, man brauche seine Energie nicht in Aufgaben zu verschwenden, die andere längst vor einem erledigt haben. Dieser Ratschlag mag für Autohersteller oder Eisenbahningenieure angebracht sein, für Künstler jedoch nicht. Künstler gehören zu denen, die im allseits Bekannten und Gewohnten Neues entdecken und finden. Deshalb sollte man sie nicht Erfinder, sondern Finder nennen. (Picasso!)

Vor über 5000 Jahren hat einer von dieser Sorte Mensch mit zwei Rädern herumgespielt, die durch eine Achse verbunden waren, und hat mal die Achse, völlig unsinnig und unfunktional, senkrecht gehalten, so dass die Räder sich in der waagerechten Ebene drehten. Er hat dadurch das Rad nicht neu erfunden, aber die Töpferscheibe mit Fußantrieb. Diese Erfindung hat dann in unserer Sicht eine neue Kulturstufe eröffnet.

Dass Jan Schmidts abseitiger Gebrauch der Rotationsdynamik ebenfalls eine neue Zivilisationsstufe einleitet, wage ich bei aller Sympathie zu bezweifeln. Jan wendet vielmehr mit seiner pfiffigen Idee eine bewährte Kulturtechnik an: Erkenntnis durch Witz.

Wohlgemerkt: Was er macht und war wir hier sehen, ist kein Witz, sondern es hat Witz. Und zwar die Pointe eines Verfremdungseffekts.

Wenn wir eine klassische Handzeichnung betrachten, sehen wir die authentische Spur künstlerischen Wollens und Könnens, wir staunen unter Umständen über das differenzierte Zeichenrepertoire des Meisters.

Wenn Schmidt und PSR 12 eine Zeichnung gemacht haben, dann ist Jan, wie ich annehme, der erste, der über das Ergebnis überrascht ist und staunt.

Diese Zeichnung kann ein Zeichen-Handwerker nicht herstellen. (Städelblatt)

Kein Handwerker schafft es, eine zufällige Anordnung von Pünktchen, Strichlein und Flecken in hundert- und tausendfacher Wiederholung und in präzisem Rhythmus zu kopieren und sie zugleich in völlig gleichmäßigen Schritten zu verändern.

Der Reiz dieser rhythmischen Abfolgen liegt ja darin, dass sie mehr oder weniger deutlich Anfang und Ende haben, d.h. eine Entwicklung durchlaufen. Mechanische Wiederholung kennt aber keine gleichmäßige Entwicklung. Veränderungs- und Entwicklungsdynamik ist aber ein Kennzeichen natürlicher Strukturen.

Das bedeutet zusammengefasst: Schmidt schafft es, mit charmant-improvisierter Baumarkt-Bastelausrüstung drei Aspekte zu vereinen. Die verfremdete künstlerische Handschrift, ihre technische Reproduktion und einen natur-analogen linearen Entwicklungsprozess. Kunst, Technik, Natur in einem Prozess – aus dem Geiste des Baumarkts.

Claude Levi-Strauss – um meinen anthropologischen Begründungs-Exzess zu Ende zu bringen – hat vermutet, dass die Grundlage kultureller Entwicklung nicht in technischer Perfektion oder dem Wirken des großen Original-Genies liegt, sondern in dem, was französisch bricoller heißt, dem tastend-versuchenden, improvisierten Herumgefummel, das zu deutsch „basteln“ heißt.

Ist Jan Schmidt also ein Kunst-Banause?
Viel schlimmer. Er ist ein Bastler.

 

Vroni Schwegler und Christoph Borowiak in der Anatomischen Sammlung der Frankfurter Universitätsklinik, 16. Oktober 2002

In der Sammlung: Das Ringen um den liebevollen Blick.

Wir sind hier in der Sammlung, d.h. nüchtern und genau in der Lehrmittelsammlung, vergleichbar einer Sammlung technischer Funktionsmodelle, Motoren und Aggregate. Auch die werden aus didaktischen Gründen oft in Längs- oder Querschnitten präsentiert.

…. Nun ist das Küssen von Formalinpräparaten
a) nicht jedermanns Sache und
b) nicht sehr erfolgversprechend in puncto Revitalisierung.

Erfolgversprechender ist der Weg, den unsere beiden Künstler einschlagen und den auch das Märchen und der Mythos vorschlagen:
Das Ringen um den liebevollen Blick.

Und doch spürt der ungeübte Besucher sofort einen Unterschied: Die von der Architektur und der Einrichtung geforderte Atmosphäre kühler Sachlichkeit für einen Laien wie mich will sich nicht umstandslos einstellen. Am unbefangensten kann ich die Knochen und Schädel betrachten.Das gebleichte Weiß erinnert an Marmorskulpturen, die Betrachtung des Schädels ist von der büßenden Maria Magdalena bis zu Hamlet und Faust kulturell eingeübt als Meditation der Vergänglichkeit des Fleisches und der Eitelkeit menschlichen Strebens im Angesicht des Todes.

Der Anblick eines präparierten menschlichen Kopfes löst einen Schauer ganz anderer Art aus.

Die unverwechselbare Physiognomie ist erhalten geblieben: Die Form von Stirn, Nase, Lippen, Kinn, der Schnitt des Auges und des Ohres, die Falten und feinsten Fältchen, die ihm seine Herkunft, sein Charakter und sein Schicksal eingeprägt haben, sind deutlich sichtbar. Demgegenüber wirkt der Schädel beruhigend allgemein, abstrahiert und distanziert. In ihm begegnen wir unserer Gattung, im Pärparat unserer Individualität.

Was aber bewirkt diesen Schauder? Ist es die Todesnähe? Ich glaube, im Gegenteil: Es ist die Todlosigkeit.

Wir alle wissen und spüren täglich, dass Leben stete Bewegung ist, ständige Veränderung, Übergang, Aufbau und Abbau, körperlich, seelisch, geistig. Diese Metamorphose des Lebens umfasst auch den Tod, unser körperliches Dasein ist Wachstum und Vergehen, Werden und Verwesung (ein schönes, tiefes Wort der deutschen Sprache).

Das Formalin-Präparat ist leblos, aber auch untot. Es ist im Zustand der Erstarrung, in einer Art Schneewittchen-Schlaf in einem Glas-Sarg.

Der Zweck dieser Präparate ist es, allgemeingültige anatomische Sachverhalte an einem Beispiel zu studieren. In den Präparaten ist jedoch das exemplarische, gattungsspezifische, das rational konstatiert werden kann, mit Spuren persönlichen Schicksals, mit der Dramatik gelebten Lebens und der Tragik unlebbaren Lebens untrennbar verbunden. Und dieses Ausdrucksvolle in Mimik, Gestik, farbiger Erscheinung, zweifellos ein unbeabsichtigtes „Surplus“ der Präparate, das die Gefühle bewegt und auch die Seele erschüttern kann, wird von Vroni Schwegler und Christoph Borowiak gesehen und gesucht.

Beide sagen, dass sie ihre Präparat-Motive nicht nach vordergründig ästhetischen Kriterien ausgesucht haben, (und viele Präparate haben, wenn man Scheu und Ekel überwunden hat, eine wunderbar subtile Ästhetik), sondern sie haben die menschliche Anrührung gesucht, d.h. die Punkte, wo der erstarrte Ausdruck eine innere Bewegung auslöst.

Ihre Zeichnungen sind dadurch zugleich Erforschung der äußeren Erscheinung und der Erforschung dessen, was sie im Inneren aufscheinen läst.

Charakteristisch für Schwegler sind die winzigen, hochkonzentriert und geradezu skrupulös gesetzten Markierungen. Jedes Strichlein ist zart und doch hochgespannte Energie. Borowiaks Strich erscheint nüchterner und flüssiger.

Dürer nannte das Zeichnen „reissen“ (Grundriss, Aufriss). Das klingt derber und liebloser, als Dürer es selbst praktiziert hat. Es meint, dass der Strich des Künstlers seine Formen dadurch findet, dass er sie aus dem unendlichen Kontinuum des Sichtbaren heraustrennt, isoliert. Darein spielt eine durchaus gewollte Nähe zum Seziermesser des Anatomen. Chr. B. hat ja früher tatsächlich hier seziert und durfte deshalb auch im Allerheiligsten der Anatomie, im Präpariersaal, zeichnen. Beiden gemeinsam ist das bescheidene Format, die einfachen Mittel und die unsentimentale Haltung, die jeden expressionistischen Überschwang meidet.

Was bewirken die Zeichnungen von den beiden Künstlern? Vroni Schweglers malt zu Hause tote Tiere, Hasen, Fischköpfe, gerupfte Hühner, Tiere, die zum Verzehr bestimmt sind. Auf ihren Bildern erhalten die toten Tiere eine neue Anmutung von Lebendigkeit, ein neues Leben. Christoph Borowiak sagte, dass sein früheres anatomisches Studium durch das jetzige zeichnerische Studium erst komplettiert würde, einen Abschluss fände, oder vielleicht einen neuen Lebensanschluss.

Beide Künstler haben sich aus der Sammlung hauptsächlich Föten herausgesucht, ungeborene oder fehlgeborene Kinder, nicht gelebtes oder nicht entwicklungsfähiges Leben, das doch so viel über Leben und Schmerz erzählt.

Das zuvor schon genante Märchen von Schneewittchen handelt von Schönheit, Lebensentwicklung, Wachstum, Hemmung, und Hinderung des Lebens durch Lebensneid und Todeswünsche, Lebenserstarrung und Erlösung, Rückführung ins Leben durch den schönen Prinzen, Lebenserneuerung. Damit verwandt ist der Künstlermythos von Pygmalion, der meiner Marmorstatue durch einen Kuss ein neues biologisches Leben gibt und ihr dafür die Unsterblichkeit nimmt.

Nun ist das Küssen von Formalinpräparaten
c) nicht jedermanns Sache und
d) nicht sehr erfolgversprechend in puncto Revitalisierung.

Erfolgversprechender ist der Weg, den unsere beiden Künstler einschlagen und den auch das Märchen und der Mythos vorschlagen:
Das Ringen um den liebevollen Blick.